Montag, 18. Januar 2010

die Abgesondertheit und die große Idee

Dostojewskij, Die Brüder Karamasov, S. 488

"Darüber", fährt er fort, "daß jeder Mensch für alle und alles schuldig ist, über seine eigenen Sünden hinaus, darüber haben Sie völlig richtig geurteilt, und es ist erstaunlich, wie Sie plötzlich diesen Gedanken in seiner ganzen Fülle umfaßt haben. Und es ist wahrhaftig wahr, daß für die Menschen, sobald sie diesen Gedanken begriffen haben, das Himmelreich anbrechen wird. Und zwar nicht nur als Traum, sondern in Wirklichkeit." - "Aber wann", rief ich betrübt, "wann wird das sein? Wird es überhapt je anbrechen? Ist das nicht vielleicht ein leeres Traum?" - "Sehen Sie, ihnen fehlt der Glaube",
sagte er, "Sie predigen es, ohne selbst daran zu glauben. So wissen Sie denn, daß dieser Traum, wie Sie es nennen, unfehlbar Wirklichkeit werden wird, Sie müssen es glauben, nur nicht jetzt, denn ein jegliches folgt seinem Gesetz. Es ist eine seelische, eine innerliche Angelegenheit. Um die Welt verwandeln zu können, müssen die Menschen selbst innerlich einen anderen Weg einschlagen. Bevor nicht jeder tatsächlich zum Bruder des anderen wird, kann es keine Brüderlichkeit geben. Keine Wissenschaft und kein Utilitarismus werden den Menschen jemals dazu bringen, sein Hab und Gut und seine Rechte redlich zu teilen. Jeder wird sich übervorteilt fühlen, alle werden murren, einander beneiden und einander vertilgen. Sie fragen, wann dies anbrechen wird. Dies wird anbrechen, aber vorher muß die Periode der menschlichen Abgesondertheit zu Ende sein." - "Was heißt Abgesondertheit?" fragte ich ihn. "Jene, die jetzt überall herrscht, insbesondere in unserer Zeit, die ihren Höhepunkt noch nicht überschritten, deren Stunde noch nicht geschlagen hat. Denn jeder ist darum bemüht, siene Person so weit wie möglich zu isolieren, er wünscht, die Fülle des Lebens in sich auszukosten, indes führen seine sämtlichen Bemühungen statt zur Fülle des Lebens nur zu einer regelrechten Selbsttötung, denn sie enden statt in vollkommener Selbstbestimmung in vollkommener Abgesondertheit. Denn die Menschheit ist in unserer Zeit in lauter Einzelne zerfallen, jeder zieht sich in seine Höhle zurück, jeder geht zum anderen auf Distanz, versteckt sich und versteckt auch alles, was er hat, und zu guter Letzt findet er die Menschen abstoßend und stößt selbst die Menschen von sich ab. In seiner Abgesondertheit hortet er Reichtümer und denkt: "Wie stark bin ich jetzt und wie gut gesichert", weiß aber in seinem Wahn nicht, daß er, je mehr er hortet, desto tiefer in selbstmörderische Impotenz versinkt. Denn er ist gewohnt, sich nur auf sich selbst zu verlassen, er hat sich om Ganzen als einzelner abgesondert, er hat seine Seele dazu erzogen, nch an menschliche Hilfe, an die Menschen und an die Menschheit zu glauben, und er zittert nur davor, daß er sein Geld und seine erworbenen Rechte verlieren könnte. Allerorten verweigert sich heute der menschliche Verstand höhnisch der Einsicht, daß die wahre Sicherheit einer Person keineswegs durch die individuelle, abgesonderte Anstrengung gewährleistet ist, sondern nur in der menschheitlichen, allgemeinen Ganzheit. Aber auch diese furchtbare Abgesondertheit wird unweigerlich einmal zu Ende gehen, und ann werden alle blitzartig begreifen, wie widernatürlich sie sich voneinander abgesondert haben. Es erhebt sich der Wind einer anderen Zeit, und die Menschen werden sich wundern, daß sie so lange im Finstern ausgeharrt und das Licht nicht gesehen haben. Dann wir das Zeichen des Menschensohns am Himmel erscheinen... Aber bis dahin gilt es, das Banner hochzuhalten und hin und wieder, wenigstens als einzelner, ein Beispiel zu geben und die Seele aus der Abgesonderheit zum Handeln in brüderlicher Gemeinschaft zu führen, selbst wenn ihm dies auch den Ruf eines Gottesnarren einbrächte. Das muß sein, damit die große Idee nicht sterbe."

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